„The first draft of anything is shit.“ – Die Perfektionismus-Falle
von Ralf Raabe
Gerade die intelligentesten und sensibelsten Menschen haben die höchsten Ansprüche an sich selbst. Und ich gehe davon aus, dass auch du nichts Geringeres im Sinn hast, als einen mit unzähligen Literaturpreisen ausgezeichneten Bestseller zu schreiben. Das ist völlig in Ordnung.
Leider scheitern viele Autoren und Autorinnen an ihren eigenen Ansprüchen. Sie ahnen instinktiv, dass es unmöglich ist, diesem Ideal mit dem ersten Entwurf gerecht zu werden. Und die selbstwertschützende Strategie lautet deshalb: Prokrastination.
Diese kann viele Formen annehmen: Von monatelangen Recherchen („Ich muss noch so viel über die Alltagskultur des 17. Jahrhunderts herausfinden, bevor ich mit meinem historischen Roman beginnen kann.“) bis hin zur Entwicklung eines ausgeprägten Putzfimmels („Ich werde viel inspirierter schreiben können, wenn das Fenster in meinem Arbeitszimmer endlich mal wieder geputzt ist.“).
Es würde mich sehr wundern, wenn du deinen ersten Entwurf – und nichts anderes wirst du in den nächsten Wochen schreiben – nicht mehrmals überarbeiten würdest. Die eigentliche Arbeit beginnt erst, wenn der Rohtext geschrieben ist.
Wenn du ein Perfektionist bist, vertröste deinen inneren Kritiker. Er wird schon zu seinem Recht kommen. Aber erst, wenn der Rohtext steht.
Schreibe deine täglichen drei Seiten in dem befreienden Bewusstsein, dass sie nicht perfekt sein müssen. Wichtig ist nur, dass du die Geschichte zu Ende schreibst. Am Anfang geht es also mehr um sprachliche Quantität (gemessen in Wörtern) als um sprachliche Qualität.
Wenn du dir erlaubst, „schlecht“ zu schreiben, d. h. ohne deine hohen Ansprüche, wird das den Knoten zum Platzen bringen. Du wirst mehr Text in kürzerer Zeit zu Papier bringen. Paradoxerweise wird sich dadurch auch die sprachliche Qualität deiner Texte verbessern.
Was bedeutet das für deinen Schreiballtag? Verbiete dir jede Form von Überarbeitung! Wenn du plötzlich merkst, dass du eine Nebenfigur brauchst, die du schon zwei Szenen früher hättest einführen sollen, dann notiere das und schreibe weiter, als hättest du sie schon eingeführt.
Wenn du beim Schreiben einer Szene plötzlich merkst, dass dir die Beschreibung einer typischen Gefängniszelle im Wisconsin der 60er Jahre fehlt, verbiete dir selbst die Recherche. Mache an dieser Stelle in der Szene eine Notiz („Hier Beschreibung der Gefängniszelle einfügen“) und schreibe die Szene zu Ende.
Mit anderen Worten: Wenn du auf deinem Weg auf solche Hindernisse triffst, verschwende keine Zeit damit, sie aus dem Weg zu räumen. Springe einfach darüber hinweg und schreibe weiter. Konzentriere dich darauf, in der Energie zu bleiben, die dein Schreiben antreibt, und halte dein Tempo.
Noch ein Tipp, um den Überblick zu behalten: Ich lege für jede Szene eine eigene Datei an, in der ich kurz notiere, was ich später an dieser Szene noch ändern möchte. Parallel dazu arbeite ich mit einem klassischen Zettelkasten, in dem ich Überarbeitungsideen zu den einzelnen Szenen sammle. Hier finden sich hastig hingeworfene Notizen, die ich im Alltag auf Papierservietten, Kassenzettel oder einen alten Briefumschlag gekritzelt habe. Ich lege diese Ideen entsprechend ab – und vergesse sie, bis der gesamte(!) Rohtext fertig ist.
Alles, was du zum Schreiben deines Romans benötigst, hast du bereits in deinem Gepäck. Du musst nicht vorher noch dieses oder jenes Buch lesen oder wochenlange Recherchen betreiben. Lähme dich selbst nicht mit überzogenen Perfektionsansprüchen. Denk an die unsterblichen Worte von Ernest Hemingway: „The first draft of anything is shit.“
Also, fang an.
Jetzt!