Wie du tiefgründige und packende Figuren für deinen Roman erschaffst (Teil 2 von 2)

von Ralf Raabe

Bestimmt hast du bereits Bücher gelesen, die dich so sehr in den Bann gezogen haben, dass die Figuren zu einem Teil deines eigenen Lebens wurden. Was macht diese Figuren so lebendig, so unvergesslich? In Teil 1 dieses Blog-Beitrages haben wir uns einige Grundlagen der Figurenentwicklung angesehen. Heute möchte ich mit dir tiefer eintauchen und einige Gedanken erforschen, die den wahren Kern deiner Romanfiguren bilden können.

Es geht nicht nur darum, sie realistisch oder sympathisch zu gestalten, sondern darum, sie mit Tiefe, Schatten und Ecken und Kanten zu versehen. Denn genau das macht sie authentisch und fesselnd. Lass uns gemeinsam diese Reise in die komplexe Welt der Figurengestaltung fortsetzen und entdecken, wie du Figuren erschaffst, die deine Leser nie wieder vergessen werden.

Gliederung von Teil 2:

4. Warum dein Protagonist eine Schwäche braucht

5. Schau hinter die Maske des Alltags

6. Verzaubere den Leser mit exzentrischen Figuren

7. Der Schatten: Die Abgründe deines Protagonisten

Und los geht´s!

4. Warum dein Protagonist eine Schwäche braucht

Der Held ist nicht nur stark, schön und fähig. Ohne eine Schwäche ist er langweilig. Achilles ist an seiner Ferse verwundbar. Siegfried ist nach seinem Bad im Drachenblut ebenfalls unverwundbar, bis auf die Stelle, an der ein Blatt fiel. Supermans Schwäche ist das Kryptonit. Ebenso braucht dein Antagonist einen positiven Charakterzug, wenn er interessant sein soll.

Vladimir Nabokovs Figur des in den USA lebenden Exil-Russen Timofei Pnin erscheint in seiner hoffnungslosen Kauzigkeit lächerlich. Aber gegenüber seiner selbstsüchtigen Ehefrau Lisa erweist er sich als loyal, was ihn wieder für den Leser einnimmt.

5. Schau hinter die Maske des Alltags

In den gewöhnlichen Alltagssituationen sehen wir von den Menschen nur die Fassade, die sie gewohnt sind, anderen zu zeigen, die sie ihr Leben lang aufgebaut haben: Sie stellen jene sozial erwünschten Verhaltensweisen oder akzeptierten Meinungen zur Schau, von denen sie wissen, dass andere sie gern sehen. Und sie präsentieren uns das Bildnis ihres eigenen Ich-Ideals. Im Gespräch spielen sie oft jene Schallplatten ab, die sich in der Vergangenheit bewährt haben, die sich beim Verfolgen dieser Ziele bewährt haben. Ein echtes Eingehen auf das Gegenüber und eine aufrichtige Innenschau findet jedoch im Gespräch eher selten statt. Man spult jene Tonspur ab, die sich im Gehirn am tiefsten in die neuronalen Netze eingegraben hat.

Oft spielen Menschen diese Rolle so überzeugend, dass sie selbst daran glauben. Es muss schon etwas Außergewöhnliches passieren, um diese Muster zu durchbrechen. Und wie deine Figur auf ein solches Ereignis reagiert, ist für deinen Leser interessant.

6. Verzaubere den Leser mit exzentrischen Figuren

Erschaffe exzentrische Figuren: Sol Stein stellt in seinem Buch „Über das Schreiben“ die Frage, was außergewöhnliche Figuren ausmache. Er prüft dabei die Faktoren Persönlichkeit, Disposition, Temperament, Individualität und Exzentrizität. Er gelangt schließlich zu dem Schluss, dass im Kern einer starken Charakterbeschreibung Exzentrizität liege. Gerade bei den Romanen des 20. Jahrhunderts seien uns jene Romane am deutlichsten in Erinnerung geblieben, deren Figuren bis zu einem gewissen Grade exzentrisch seien, wie die Figuren von Hemingway, William Faulkner, Graham Greene, Kafka, García Márques oder Philip Roth.

Sol Stein führt das auf die Banalität des Normalen zurück: In der Literatur suchten wir etwas anderes, gewissermaßen ein Gegenbild den Menschen und Ereignissen, die uns im Alltag begegnen. Kaum jemand sei bereit, Geld dafür zu bezahlen, um seine kostbare Zeit in der Gesellschaft zu verbringen, die sich nicht grundlegend von ihm selbst oder seinem Nachbarn unterscheiden. Anscheinend fühlen wir uns von Figuren angezogen, die sich vom Alltäglichen, vom Gewohnten unterscheiden. Dabei sei es nicht die Exzentrizität an sich, die uns fasziniere, sondern die Tatsache, dass wir uns dieser Exzentrizität zum Trotz mit den menschlichen Schwächen, Hoffnungen, Triumpfen und Verletzlichkeiten mit dieser Figur identifizieren können.

Natürlich kannst du die Exzentrizität deiner Figur an Äußerlichkeiten (Kleidung, Frisur etc.) deutlich machen. Wirkungsvoller aber ist es, an den Ambitionen deiner Figur anzusetzen. Frage dich, was deine Figur wirklich will. Wenn du die Antwort hast, überlege dir ein Ziel für deine Figur, das weit über deine erste Antwort hinausgeht. Gib ihr ein größeres Ziel!

Du kannst deiner Figur auch einen bestimmten Charakterzug geben und diesen ins Maßlose übertreiben. Ein wunderbares Beispiel dafür ist der von Phobien und Zwangsstörungen geplagte neurotische Privatdetektiv Adrian Monk in der TV-Serie „Monk“. Dieses Merkmal sollte natürlich in Zusammenhang mit deiner Geschichte stehen.

Auch eine schräge Lebensphilosophie kann deine Figur interessant machen. Die Hauptfigur von John Kennedy Tools „Die Verschwörung der Idioten“ (1963) ist ein fantastisches Beispiel dafür: Der übergewichtige, faule und egozentrische Ignatius J. Reilly versteckt seine Lebensuntüchtigkeit durch eine schein-intellektuelle, aufgeblasene Selbstinszenierung, mit der er die Menschen in seinem Umfeld tyrannisiert. In Vladimir Nabokovs Roman „Pnin“ ist es der feinsinnige, aber tragikomische Antiheld Timofei Pnin, der den Leser ebenso rührt wie fasziniert. Auch Shakespeares Figur John Falstaff oder Cervantes` Don Quichote sind Beispiele für solche Figuren.

Die Exzentrizität einer solchen Figur kannst du noch deutlicher hervorheben, indem du ihr eine bodenständige, normale Figur an die Seite stellst. Sherlock Holmes kann deshalb glänzen, weil er den geistig normalbegabten Watson an seiner Seite hat. Don Quichote wirkt umso verrückter, weil er in Begleitung des bodenständigen Sancho Pansa daherkommt.

7. Der Schatten: Die Abgründe deines Protagonisten

Bestimmt kennst du die Novelle „Der seltsame Fall des Doktor Jekyll und Mister Hyde“ (1886) des schottischen Schriftstellers Robert Louise Stevenson. In dieser Story spaltet der ehrbare Wohltäter und Menschenfreund Doktor Jekyll einen Teil seiner Persönlichkeit ab, die als Mister Hyde (sprechender Name) hemmungslos ihr lasterhaften Triebe auslebt. Natürlich geht es um ein und dieselbe Person – und um die seelischen Abgründe, die wir vor uns selbst, aber noch mehr vor den anderen Menschen zu verbergen versuchen.

Wenn du deinen Figuren das mit auf den Weg geben willst, was wir bisher zugestandenermaßen noch unscharf als „Tiefe“ mit auf ihren literarischen Lebensweg geben willst, dann ist ein Schatten ein vielversprechender Weg.

Den Begriff des Schattens prägte der Tiefenpsychologe C. G. Jung. Damit bezeichnet er jene Teile unserer Persönlichkeit, die wir aus Angst, Scham oder Unwissenheit von unserem Selbst abgespalten haben. Einfach gesagt: Der Schatten repräsentiert die Person, die wir lieber nicht wären.

Jeder Mensch hat eine dunkle, abgründige Seite, die er vor sich und den anderen zu verbergen versucht. Manchen Menschen ist diese Seite ihrer selbst vage bewusst, andere verdrängen sie mehr oder weniger erfolgreich. Mag es uns nur in verschiedenem Maße gelingen, diesen Schatten vor uns selbst zu verbergen, so tun wir alles, um ihn den anderen zu verheimlichen.

Also, was genau ist der Schatten? Ich bin davon überzeugt, dass du schon jetzt intuitiv eine Ahnung hast, auf welchen Anteil deiner Seele dieser Begriff sich beziehen mag. Mein Tipp: Beginne einen Brainwriting, in dem du dem Schatten deiner Seele in der Ich-Form den Raum gibst, sich vorzustellen: „Wer bin ich? Was zeichnet mich aus? Warum verdrängt mich mein Träger? Welchen Nutzen oder welche Hilfe kann ich ihm bieten, wenn er mich als Teil seiner Persönlichkeit akzeptiert?“ Ich muss dich warnen, mit dieser scheinbar harmlosen Übung begibst du dich in die tief verschatteten Niederungen deiner Persönlichkeit. Wenn dir das zu bedrohlich erscheint, beantworte diese Fragen doch mal für deine Hauptfigur!

Wir neigen dazu, unseren Schatten auf andere zu projizieren. Mein Selbstbild mag dadurch geprägt sein, dass ich mich für einen ordentlichen und strukturierten Menschen halte. Wenn ich mich über die Unordnung im Zimmer meiner halbwüchsigen Tochter ärgere, dann hat das weniger etwas mit dem tatsächlichen Durcheinander zu tun als vielmehr damit, dass ich selbst einen Persönlichkeitsanteil in mir habe, der unordentlich, schlampig (kreativ?) ist, den ich aber vor mir selbst nicht eingestehen kann. Wäre ich mit diesem verleugneten Teil meiner Selbst im Reinen, würde ich mich über die Unordnung im Zimmer meiner Tochter nicht aufregen.

Der Schatten ist also auch das, was wir bei anderen sehen, aber bei uns selbst leugnen. Der Schatten beschreibt also den Widerspruch zwischen dem Ideal, was wir sein wollen, und dem Peinlichen, das wir auch sind.

Dem Schatten gegenüber steht die Persona. Der Begriff geht auf das antike Theater zurück, in dem sich der Schauspieler eine Maske (die Persona) überzog, durch die hindurch er die mythische Gestalt spielte, die er verkörpern sollte. Die Persona steht zum einen für unser Ich-Ideal, also die Vorstellung, wie wir uns selbst gern sehen, und zum anderen für die Art, wie wir von den Menschen wahrgenommen werden wollen. Die Persona entspricht also der Rolle bzw. den Rollen, die wir im Miteinander spielen. Oft erstarren Menschen in ihrer Persona, d. h. sie identifizieren sich mehr oder weniger vollständig mit den an sie herangetragenen Rollenerwartungen. Ein Beispiel ist der Deutschlehrer, der in allen, also auch nicht-schulischen sozialen Situationen seine Mitmenschen wegen ihrer Orthografie- und Grammatikfehler ermahnt. Wenn du eine komische Figur erschaffen willst, ist das ein wirksamer Ansatzpunkt.

Erkunde deinen Schatten: Starte ein Brainwriting und frage dich, worüber du dich bei anderen Menschen am meisten ärgerst. Inwieweit hast du Anteile dieses Verhaltens, dieser Haltungen in dir? Was würde sich in deinem Leben verändern, wenn du diese Anteile akzeptieren könntest (ohne sie notwendigerweise ausleben zu müssen)?

Wenn du deiner Figur einen Schatten verleihst, kannst du folgendes Dilemma auflösen: Einerseits sollte deine Figur in der Lage sein, die Leserin zu überraschen: In einer beispielsweise für die Figur gefahrvollen Situation sollte sich deine Figur auf eine Weise verhalten, welche die Leserin nicht vorhergesehen hat und der Handlung so eine neue Wendung geben. Andererseits besteht die Gefahr, dass die Figur auf eine Weise reagiert, welche die Leserin ihr auf der Grundlage der bisherigen Charakterisierung nicht abkauft („Out of Character“-Verhalten). Wenn du deiner Figur einen Schatten gibst, dann kann das, was im ersten Moment wie ein „Out of Character“-Verhalten aussieht, dem verborgenen Schatten der Figur entsprungen sein, also bereits als Potenzial tief in der Figur angelegt gewesen zu sein. Dieses Verhalten wirkt glaubwürdiger, wenn du deine Leserin bereits im Vorfeld einen vorsichtigen Blick auf den Schatten der Figur hast werfen lassen.

Also: Warum du deiner Hauptfigur einen Schatten geben solltest. Gerade Anfänger neigen dazu, ihre Hauptfigur zu glatt, zu stromlinienförmig, zu sympathisch zu gestalten. Deine Figur sollte mehr sein als die Fassade, die sie anderen und sich selbst gern zeigt. Sie sollte innere Widersprüche und seelische Abgründe haben, die der Leser zumindest erahnen sollte. Denk auch hier an das Eisberg-Modell. Diese Abgründe solltest du in der Lebensgeschichte deiner Figur, also in ihrer Backstory haben. Bedenke aber auch, dass die Figur einen Schatten nicht nur um seiner selbst willen haben sollte, sondern dass du den Schatten im Idealfall auch auf den Figurenbogen und damit auf die Handlung selbst beziehst.

Zusammenfassung

Hier sind die noch einmal die ersten Schlüsselelemente vier bis sieben, wenn du deinen Figuren Tiefe und Einzigartigkeit verleihen willst:

4. Schwäche des Protagonisten: Jede Hauptfigur sollte eine Schwäche besitzen, die ihn interessanter und menschlicher macht, vergleichbar mit den Schwächen historischer oder fiktiver Figuren wie Achilles und Superman.

5. Die Maske des Alltags: Figuren besitzen oft eine äußere Fassade, ein im Laufe der Zeit konstruiertes Selbstbild, das durch besondere Umstände oder Ereignisse durchbrochen werden kann, was Spannung erzeugt.

6. Exzentrische Figuren: Einprägsame Figuren weisen oft eine gewisse Exzentrizität auf, sei es durch besondere Äußerlichkeiten, Ambitionen oder überzeichnete Charakterzüge.

7. Der Schatten des Protagonisten: Jede Figur hat verborgene Aspekte ihrer Persönlichkeit, die sie vor anderen verbergen möchte. Diese dunklen Seiten oder „Schatten“ können genutzt werden, um der Figur zusätzliche Tiefe zu verleihen und als Quelle für überraschendes Verhalten zu dienen.

Wenn du diese Aspekte in deinen Schreibprozess einbindest. wirst du realistische, komplexe und unvergessliche Figuren erschaffen.

Hier geht es zu Band 1: Wie du tiefgründige und packende Figuren für deinen Roman erschaffst (Teil 1 von 2) – ralf-raabe.de

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