Wie du tiefgründige und packende Figuren für deinen Roman erschaffst (Teil 1 von 2)

von Ralf Raabe

Jeder angehende Romanautor träumt davon, unvergessliche Figuren zu erschaffen, die den Leser fesseln und bewegen. Aber was macht eine Figur wirklich interessant und glaubwürdig? In diesem Blogbeitrag tauchen wir in die Kunst der Figurenentwicklung ein. Ich zeige dir, wie du den Zauber lebendiger und mehrdimensionaler Charaktere entfalten kannst. 

Gliederung:

1. Die Kunst der Figurentiefe

2. Der Mythos von „flachen“ und „runden“ Charakteren

3. Die Ambivalenz deiner Hauptfigur

Los geht´s!

1. Die Kunst der Figurentiefe

Das Wesen tiefer Figuren: In eher handlungsgetriebenen Romanen, wie etwa einem Spionagethriller stören sie nicht: flache Figuren. In eher figurengetriebenen Romanen erwarten wir etwas anderes, nämliche „runde“ oder „dreidimensionale Figuren“.

Beide Formulierungen sind unglücklich gewählt, weil erstere eine unangemessene komische körperliche Assoziation hervorruft und letztere auf die drei Dimensionen des Raumes verweist, was ebenfalls nicht ganz passend erscheint.

Einigen wir uns auf den Begriff „tiefe“ Figuren. Er bildet nicht nur das direkte Gegenteil von den „flachen“ Figuren, gegenüber denen es sich abzugrenzen gilt. Er legt auch die Assoziation einer metaphorischen „Seelentiefe“ nahe, die intuitiv leichter zu erschließen ist.

Die Bedeutung von Glaubwürdigkeit und Empathie: Die Figurentiefe ist ein Maß für die Glaubwürdigkeit, das Empathie-Angebot und Faszinationskraft einer Figur. Glaubwürdig ist eine Figur, wenn wir in ihr die seelische Komplexität und Ambivalenz spüren, die wir auch von uns selbst kennen. Dann können wir mit ihr mitfühlen (Empathie-Angebot). Dass die Figur dafür nicht notwendigerweise sympathisch gezeichnet sein muss, habe ich schon erwähnt. Eine Figur wie Arthur Fleck in der Comicverfilmung „Joker“ (2019) ist kaum sympathisch. Aber je mehr die tief in der Vergangenheit der Figur angelegten Verwundungen dem Zuschauer (und der Figur selbst) offenbar werden, desto mehr fasziniert uns die Figur und ihr unaufhaltsamer Abstieg in einer Art „Anti-Helden-Reise“.

Erzählperspektive und Figurentiefe: Dies setzt voraus, dass die Figur mit einem mehr oder weniger komplexen Innenleben ausgestattet ist, zu dem die Leserin einen Zugang findet. Das Seelenleben der Figur kann sich in ihren Gedanken und Reflexionen, aber ebenso in ihren Worten und Handlungen ausdrücken. Dies ist eng verknüpft mit der Erzählperspektive, die du als Autor festlegst.

Der US-amerikanische Krimiautor Raymond Chandler beispielsweise hat für die Figur des Privatdetektivs Philip Marlowe die Ich-Perspektive gewählt. Trotz der Möglichkeiten der Innensicht dieser Perspektive verweigert uns die ihrer Anlage nach zwar abgebrühte, aber dennoch sehr empfindungsfähige Figur jeden Einblick in ihre Gefühlswelt. Diese offenbart sich aber dennoch und das in viel stärkerem Maße durch ihre oft lakonischen Worte und durch ihr Handeln.

Tipp: Lass die Küchenpsychologie dort, wo sie hingehört: in der untersten Schublade. Meist ist es ein Fehler, wenn du versuchst, dem Leser einen Zugang zum Innenleben deiner Figur zu bahnen, indem du die Figur selbst über ihre Verletzungen in der Vergangenheit reflektieren oder – schlimmer noch – psychologisieren lässt.

2. Der Mythos von „flachen“ und „runden“ Figuren

E. M. Forsters Definition und moderne Kritik: Der englische Autor E. M. Forster verwendet in seinen „Ansichten des Romans“ den Begriff „flach“ für Figuren, die nur durch ein einzelnes, unveränderliches Attribut gekennzeichnet sind. Inzwischen hat der Begriff der „flachen Charakteren“ einige Berühmtheit erlangt und die Verfasser von Schreibratgebern sind sich einig, dass überzeugende Figuren „rund“ zu sein haben und warten mit unterschiedlichsten Ratschlägen dazu auf, wie diese „Rundheit“ herzustellen sei. Eine Ausnahme bildet hier James Wood in seiner „Kunst des Erzählens“: Er empfindet die Idee der „Rundheit“ als Charakterisierung von Figuren als unerreichbares Ideal, das nur dazu geeignet sei, Leser, Autoren und Kritiker zu tyrannisieren. Literarische Figuren seien einfach nicht dasselbe wie wirkliche Menschen. Viele gerade der interessanten Figuren der Literatur seien zudem Monomanen wie etwas Kapitän Ahab oder Gatsby.

Vielleicht ist es an der Zeit, sich von der akademischen Unterscheidung von „rund“ versus „flach“ zu verabschieden und zu dem zurückzukehren, worum es wirklich geht: den Leser zu fesseln. Und dies erreichst du mit Figuren, die interessant, einzigartig und glaubwürdig sind. Ein Autor darf bekanntlich alles, aber nicht langweilen.

3. Die Ambivalenz deiner Hauptfigur 

Was genau unter „dreidimensionalen“ oder „runden“ Figuren zu verstehen ist, wird höchst unterschiedlich gesehen. Eines ist klar: Eine Reihe interessanter Charaktereigenschaften und besonderer Fähigkeiten zusammen zu kleben, bringt noch keine runde Figur hervor.

Robert McKee kritisiert zu Recht die Forderung, dass gute Figuren durch einen einzigen dominanten Zug gekennzeichnet seien: Wäre Macbeth einzig durch seinen maßlosen Ehrgeiz bestimmt, wären Figur wie Stück langweilig. Erst seine Schuldgefühle geben der Figur jene Tiefe, über die wir hier sprechen.

Das Schlüsselwort ist also Ambivalenz: Das Erleben eines inneren Widerspruchs, also einander widersprechender Einstellungen, Wünsche und Gefühle, die zu inneren Spannungen führen. Weil jeder diese inneren Widersprüche kennt, ja sie das Menschsein überhaupt erst auszumachen scheinen, bieten sie die größte Identifikationsfläche.

Am Beispiel von Hamlet zeigt sich, dass diese Widersprüche konsistent sein müssen, das heißt, dass sie aufeinander bezogen sein sollen: Der Wunsch, nach der Krone zu greifen steht den Skrupeln gegenüber, dafür zum Königsmörder zu werden.

Und da es die Hauptfigur ist, die im Mittelpunkt stehen soll, muss sie Träger des größten inneren Widerspruchs sein. Dies ist einer der Gründe, warum deine Figur ein inneres und ein äußeres Bedürfnis benötigt, die ihrerseits aufeinander bezogen in einem Widerspruch zueinander stehen sollten.

Zusammenfassung:  

Du bist also dabei, dein nächstes Meisterwerk zu schreiben, oder vielleicht sogar dein allererstes. Wie aufregend! Jetzt, da du bereit bist, deine Figuren zum Leben zu erwecken, lass uns über die Kunst der Figurentiefe sprechen.

1. Verstehen der Figurentiefe: Denke nicht an Figuren als „flach“ oder „rund“. Es geht nicht darum, Etiketten zu kleben. Es geht um „Tiefe“. Deine Figuren, insbesondere die Hauptfiguren, sollten so lebendig und vielschichtig sein, dass sie den Leser in ihren Bann ziehen. Dies erreicht man, indem man ihnen Glaubwürdigkeit, Empathie und eine einzigartige Stimme verleiht. Ganz gleich, ob deine Figur sympathisch ist oder nicht – was zählt, ist, dass der Leser sich in ihn hineinversetzen kann.

2. Der Mythos von „flachen“ und „runden“ Figuren: Der berühmte englische Autor E. M. Forster sprach von „flachen“ und „runden“ Figuren. Aber lass dich nicht von akademischen Unterscheidungen ablenken. Dein Ziel für dich als Autor:in sollte es sein, den Leser zu fesseln. Und wie machst du das? Mit Figuren, die interessant, einzigartig und glaubwürdig sind. Erinnere dich immer daran: Als Autor:in darfst du alles – nur nicht langweilen!

3. Ambivalenz als Schlüssel: Eine Liste von Eigenschaften macht noch keine tiefe Figur aus. Es geht um Ambivalenz, den inneren Konflikt, der in jedem von uns steckt. Deine Figuren sollten mit inneren Widersprüchen ringen, denn genau das macht sie menschlich. Durch diese inneren Konflikte schaffst du Identifikationsfläche für den Leser.

Also, denkt daran, dass der Schlüssel zu unvergesslichen Figuren in ihrer Tiefe, Ambivalenz und Glaubwürdigkeit liegt. Sei mutig, erforsche die Komplexität des menschlichen Geistes und bringe Figuren zum Leben, die dein Leser nie vergessen wird.

Bis zum nächsten Mal und viel Erfolg beim Schreiben!

Hier geht es zu Teil 2: Wie du tiefgründige und packende Figuren für deinen Roman erschaffst (Teil 2 von 2) – ralf-raabe.de

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